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Veloreise durch Italien

Bremgarten - Chiasso

Am 12. August sass ich bei bestem Wetter an der Reuss an der «alten Badi», als ich einen Anruf von meinem langjährigen Freund Tim bekam. Eigentlich wollten wir den darauffolgenden Tag vom Aargau aus Richtung Gotthardpass fahren. Doch der Wetterbericht zeigte Gewitterwarnungen an, sodass wir uns entschieden, am Donnerstag, den 15. August, zusammen mit unserem Freund Ivo, den Zug nach Chiasso zu nehmen. In Arth-Goldau in grosser Eile den Zug gewechselt, stellten wir unsere vollbepackten Fahrräder in einem Abteil ab und begaben uns in den Speisewagen, der aber leider geschlossen war. Nur eine freistehende Maltesers Packung lag auf dem Tresen. Nach etwa einer Stunde begrüsste uns ein Kontrolleur mit Walliser Dialekt. Er wollte nebst unseren Zugtickets auch noch die Fahrradreservierungen sehen und meinte dann, wir hätten uns um etwa 50 Abteile verschätzt. Lange erklärte er dann noch, dass er als Zugbegleiter der SBB, die Sicherheit zu gewährleisten habe und wenn in einem Abteil zu viele Fahrräder stehen oder diese nicht richtig befestigt sind,er dann in grosse Schwierigkeiten geraten könnte. Wir nickten und entschuldigten uns, liessen ihn weiterreden, weil an seinem Wesen etwas sehr Eigenartiges war. Seine Augen waren nämlich nur selten auf uns gerichtet, mehrheitlich schweiften sie am Dach des Zuges entlang, so als würde er die Worte seines Vortrages da ablesen. Danach verabschiedeten wir uns und setzten uns zurück in den Speisewagen. Die Maltesers Packung stand noch immer da, sodass ich meinen Hunger nicht mehr bändigen konnte und sie mir kurzum schnappte. Wir teilten diese Schokoladenkugel und genossen in bester Laune. Kurz darauf kehrte der Kontrolleur zurück. «Ah, jetzt esseder au nah mini Maltesers uf, super.» Tim sprang auf und floh in Richtung Toilette, diese Szenerie nicht aushalten könnend. Ich vor lauter Peinlichkeit berührt, konnte kein Wort sagen und Ivo rettete uns glücklicherweise, indem er direkt sein Portemonnaie zückte und sich aufrichtig entschuldigte. «Hier nehmen Sie diese vier Franken, es tut uns so leid, wir wussten nicht, dass diese Packung Ihnen gehört.» Er blieb ruhig, jedoch sichtlich enttäuscht und meinte: «Neinei, scho guet, vo dem hani ja au ned gesse.» Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal ein derart schlechtes Gewissen hatte. Die anderen Fahrgäste im Abteil hörten längstens gespannt zu und konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. Danach war ich froh, diesem Kontrolleur, den wir gleich zweimal in kurzer Zeit enttäuschten, hoffentlich nie mehr in die Augen sehen zu müssen.



Chiasso – Pavia

In Chiasso stiegen wir aus und besorgten uns Sandwiches fürs Mittagessen. Nach dem Grenzübertritt dauerte es eine Weile, bis wir mit dem regelmässigen Rhythmus des Radfahrens eins wurden. Das Bewusstsein setzte sich allmählich durch, dass die kommenden drei Wochen auf zwei Rädern verbracht werden würden. Die Landschaften zogen wie bewegte Gemälde an uns vorbei und mit jedem Kilometer verschmolzen die Eindrücke von Wind, Sonne und Asphalt zu einem nun vertrauten Begleiter. Das Tagesziel lautete für die erste Etappe «Pavia». Die etwa 100 Kilometer lange Strecke verlief zum grössten Teil entlang verschiedenen Bächen und Flüssen. In einem wunderschönen Dorf namens Cassinetta di Lugagnano badeten wir in einem Seitenarm des Flusses Naviglio Grande. Drei jugendliche Italiener sprangen da bereits von einer Brücke und forderten uns auf, es ihnen gleichzutun. Auf die Frage «Inter o Milan?» antworteten alle drei Jungs unterschiedlich. Jemand war Fan von Inter, ein anderer von AC Milan und einer von Juventus. Egal wo in Italien, immer wirst du jemand finden, der Juventus Turin unterstützt. Ausser vielleicht in Neapel. Das Baden im Fluss war eine herrliche Belohnung des zu Ende gehenden Tages. Von da aus waren es nur noch zwei Stunden Fahrt. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir aber noch nicht wissen, dass uns noch ein langer Tag bevorstehen wird. Aufgrund von Maria Himmelfahrt, war alles geschlossen und dies gab uns einen ersten Vorgeschmack auf das von uns am häufigsten gelesene Wort der Reise: «chiuso» (=geschlossen). Glücklicherweise fanden wir dann doch noch eine Kebab-Pizzeria und setzten dadurch die kulinarische Messlatte ganz unten an.  Zu diesem Zeitpunkt realisierten wir, wie viele Mücken sich in diesem flachen Feuchtgebiet der Lombardei ansammelten und, dass es unmöglich wäre, so mit den Hängematten zu übernachten. Also fuhren wir das letzte Stück nach Pavia und suchten nach Hotels. «Vielleicht treffen wir ja ein Hippie-Paar, das uns zu ihnen nach Hause einladen möchte», sagte ich optimistisch und halb im Spass zu den anderen.

Erfolglos bei der Suche und allmählich müde von der Reise, setzten wir uns resigniert auf einen Randstein und tranken unsere Biere, die wir noch übrighatten. Dann begann es tatsächlich auch noch zu regnen. Ein paar Minuten später parkte ein Auto direkt neben uns. Ein Pärchen mit zwei Töchtern stieg aus. Die Mutter lachte uns freundlich an bei dem Anblick und fragte, was wir machen. Ich antwortete: «Siamo un po’ persi.» (=Wir sind ein wenig verloren.) Darauf lachte sie noch mehr. Ich erklärte ihr unser Problem, dass wir eigentlich in unseren Hängematten schlafen wollten, aber die vielen Mücken dieses Unterfangen unmöglich machen. Die Frau, wie auch der Mann waren enorm sympathisch. Sie sagten dann, dass sie uns leider keinen Unterschlupf geben können, weil sie um drei Uhr nachts nach Korsika aufbrechen würden, aber sie kennen Freunde, welche ein Hostel bewirtschaften in Pavia. Also organisierte uns die nette Dame eine Übernachtungsmöglichkeit, während der Mann, ein Musiker, von seinen Reisen erzählte. Erschöpft und überglücklich, ein Bett für die Nacht zu haben, verabschiedeten wir uns von den beiden und legten uns schlafen.


Pavia – Lago di Brugneto



Nach erholsamem Schlaf fuhren wir Richtung Innenstadt, um Kaffee zu trinken und Brioche zu essen. Die zweite Etappe mit 135 Kilometer hatte es in sich. Es kam uns zugute, dass wir während unserer Reise immer wieder so liebevolle Begegnungen machten. So auch an diesem Morgen. Wir hatten die Angewohnheit, unsere Bidons bei Spielplätzen aufzufüllen, denn da fand man immer einen Brunnen. Als wir nach einer Stunde Fahrt in glühender Hitze an solch einem Halt machten, lief uns ein Mann im verlassenen wirkenden Dorf in Spitalmantel entgegen. In seinen Händen trug er drei Biere, welche er uns unkommentiert hinstreckte. Wir nahmen dankend an und ich fragte, wie er uns gefunden habe. Er meinte, er hätte uns vom Spital aus gesehen und dachte, dass wir bei dieser Hitze sicher ein Bier vertragen könnten. Ohne grossen Wortwechsel kehrte er wieder zurück und wir traten weiter in die Pedalen. Schwierige Aufstiege, die sich aber durch ihre Landschaften auszahlten, brachten uns an diesem Tag an unsere Grenzen. An einem Berg-Stausee schlugen wir im Dunklen unsere Hängematten auf, wuschen uns im Wasser und bereiteten zum ersten Mal eines der Fertiggerichte in pulverartiger Form zu, welches ich in meinen Fahrradtaschen mitschleppte. Wir machten Feuer, um uns zu wärmen und um uns gaben verschiedene Vögel ein Konzert zum Besten.


Lago di Brugneto - Chiavari

Um fünf Uhr morgens wachte ich aufgrund der eisernen Kälte in meiner Hängematte auf. Um Gewicht zu sparen, nahmen wir nur dünne Seidenschlafsäcke mit. Dies wurde nun schmerzlich bereut, stellte sich später aber dennoch als guter Entscheid heraus, denn so kalt wurde es nie mehr im Verlauf der Reise. Und zudem hat das Holzsuchen und Feuermachen am Morgen früh als erste Tätigkeit etwas sehr Erdendes. Zu wissen, bald am Mittelmeer anzukommen, erhebte unser Gemüt zusätzlich, trotz massiven Schlafmangels. Die Etappe war dann von atemberaubenden Abfahrten durch Wälder und charmvolle Dörfer geprägt. Alle waren wir immer wieder über die imposanten Kirchenbauten von Italien fasziniert und aus unseren Boxen klang Musik von Pino D’Angiò, Fabrizio De André, Pino Daniele und Gino Paoli, nichts war unserem Glück noch mehr beizufügen. Dabei gefiel mir die Vorstellung, wenn wir jeweils an den Häuser vorbeizogen, dass die wenigen Sekunden des in das Gebäude eindringenden Gesangs ausreichen würden, um in den italienischen Anwohnern vielleicht ein Stück Erinnerung aus der Vergangenheit zurückzuholen. In der noch starken Abendsonne erreichten wir Chiavari (früher «Clavarum» = lat. Talschlüssel) und badeten die erschöpften Beine erstmals im Meer. Währenddessen organisierten wir uns ein kleines Zimmer in der Stadt und trafen uns mit zwei Zürcher Kolleginnen von Ivo, um Negroni Sbagliato zu trinken und um über Italien zu schwärmen. Am nächsten Morgen wurden wir auf den Balkon von den beiden Schweizerinnen zu einem Brunch eingeladen. Das Festmahl sättigte seelisch derart, dass ich für den restlichen Tag gar kein Antrieb mehr hatte etwas zu tun, alles war bereits erfüllt. Und so sonnten wir uns auf dem Balkon, lasen und malten, dem Leben neugierig gegenüberstehend.



In Chiavari verbrachten wir zwei Tage in eben dieser italienischer Geniesser Manier, fast ein bisschen hedonistisch, so sehr dem Genuss verfallen. Doch immer wieder sagten wir uns, wer über 100 Kilometer pro Tag mit dem Fahrrad reist, darf sich ohne schlechtes Gewissen an all den Annehmlichkeiten bedienen, welche das Leben zu bieten hat. In der Beobachtung des Treibens auf den Strassen, mussten wir abermals feststellen, wie sehr die Italiener*innen begriffen haben, wie man leben sollte. Nämlich bloss nicht zu schnell oder wie Günter Grass es sagen würde: «Ein bisschen schneller zu gehen als die Schnecke, das ist mein Fortschritt!». Dazu die beste Küche der Welt und Hochburg der Künste. Letzteres wusste bereits Goethe, sodass er seine amtlichen Pflichten 1786 in Weimar beiseitelegte und sich für zwei Jahre nach Italien aufmachte, um zum «kompletten Künstler» zu werden. Kein Wunder, hat er sich dafür Italien ausgesucht. Man könnte nun eine ganze Studie darüber machen, wie die Kulinarik, das Soziale und die Kunst zusammenhängen und wieso diese Wechselbeziehungen Italien zu einem der sehenswertesten Länder der Welt macht. Meine Tante pflegt oft zu sagen, dass die besten Pädagog*innen zugleich Liebhaber*innen des guten Essens seien. Ein Mensch, der gerne kocht und isst, ist in den meisten Fällen ein soziales Wesen, denn wo das Essen auf Tischen serviert wird, entstehen Begegnungen und Gespräche. Gibt es ein schöneres Bild der Menschlichkeit als ein gedeckter Tisch? Ich kann mich noch gut an ein Erlebnis in Dresden erinnern, wo ich an einem kalten Abend durch die Neustadt schlenderte und an einem Fenster wie gefesselt halt machen musste. Ich sah eine Wohnung mit vereinzelten Lichtquellen, welche einen Mann erkennen liessen, welcher den Tisch deckte, während es aus der Küche dampfte. Er stand allein im Raum und bereitete alles mit Hingabe vor. Ein gedeckter Tisch wird dadurch zur höchsten vorstellbaren Liebeserklärung.


Chiavari – Levanto

Nach bereits zwei Tagen schlossen wir Chiavari derart in unser Herz, sodass der Abschied schwerfiel, auch weil es nach einer längeren Pause immer wieder schwierig ist, den entsprechenden Rhythmus auf dem Velo zu finden. Kurz vor Levanto begann es zu regnen, was uns eigentlich sogar gelegen kam, da wir sowieso für Snacks und Getränke in einer Bucht halt machen wollten.



Das Restaurant, in dem wir einkehrten, war an einem Felsen gebaut, gleich neben einem Strand mit Kieselsteinen. Da tranken wir unsere Espressos, klebten Collagen in unsere Tagebücher und lauschten der Musik unserer Tischnachbaren, welche grosse Fans von Fabrizio De André waren. Dieser war ein pazifistischer Liedermacher, welcher oft von Ausgegrenzten sang. In La Guerra di Piero singt er über den zweiten Weltkrieg und die Zeit des Faschismus:


"Dormi sepolto in un campo di grano, non è la rosa, non è il tulipano, che ti fan veglia dall'ombra dei fossi,ma sono mille papaveri rossi."

"Du schläfst begraben in einem Weizenfeld, es ist weder die Rose noch die Tulpe,die in den Gräben deinen Schlaf bewachen,sondern tausend rote Mohnblumen."


Die roten Mohnblumen sind dabei ein Symbol für die im Krieg gefallenen Soldaten und erinnern uns bildstark an die Grausamkeit des Krieges. Dass junge Menschen in Italien noch immer Fabrizio De André hören, ist nicht verwunderlich, wenn man die derzeitige politische Landschaft der noch jungen Republik sieht.

Nach dem Verweilen im Trockenen fuhren wir das letzte Stück nach Levanto alles am Meer entlang. Es war nicht das erste Mal, als wir uns ein wenig verfuhren. Tim, der ein spezielles Talent hat, Sachverhalte sehr treffend zu verbalisieren, meinte dazu: «Umwege sind Sightseeings für Dumme.»



In Levanto klapperten wir alle Campings ab, welche wir finden konnten, doch keiner hatte mehr Platz für uns. Levanto schien ein beliebter Ferienort zu sein. Es dunkelte bereits und wir beschlossen zuerst eine Pizza zu essen. Da fügte sich erneut das Schicksal zu unserem Glück: Neben uns sassen zwei ältere Damen aus Süddeutschland, welche wir irgendwann ansprachen. Zuerst redeten wir über die Sprache, die Eigenheiten der Schweizer Mundart sowie die der bayrischen Sprache. Als wir gefragt wurden, wo wir übernachten, lachten wir drei. «Wir seien noch am Suchen.» Wie das Pärchen von Pavia, begannen Susi und Gaby sich direkt gedanklich zu bemühen, wie wir jetzt noch einen Schlafplatz bekommen könnten. Da sie auf einem Camping Urlaub machten, beschlossen sie, uns dahin mitzunehmen und bei der Security höflich nach Obdach zu fragen. Als wir da ankamen, gab die sehr engagierte Susi den Plan bekannt: Jemand würde bei den Fahrrädern bleiben und der Rest begleitet sie zur Rezeption. Da sass ein Herr hinter einer Plexiglasscheibe und Susi begann plötzlich laut auf Englisch zu reden und schilderte ihm unser Problem. «CAN YOU HELP THIS YOUNG MEN FROM SWITZERLAND?!» schrie sie ihn förmlich an und gestikulierte mit ihren Händen wild herum. Nach meinem Geschmack etwas gar zu energisch. Der Security wirkte nämlich danach eingeschüchtert. Es stellte sich aber ohnehin heraus, dass er nicht dazu bemächtigt ist, Check-Ins zu machen, er sei nur für die Sicherheit hier. So verabschiedeten wir uns von den beiden netten Deutschen und bedankten uns herzlich für ihre Bemühungen. Wir fuhren durch die Nacht und kamen auf die bereits zuvor einmal besprochene Idee zurück, in einer Kirche zu übernachten. Die Kirchen, welche wir fanden, waren aber alle zu zentral und zu belichtet. In dieser Nacht schliefen wir tatsächlich auf einem Parkplatz vor einer Siedlung, wo es ein kleines Stück Grünfläche gab. Tim und ich spannten unsere Hängematten und Ivo legte seine Matte auf den Boden. Mitten in der Nacht wurden wir von Hundegebell aufgeweckt. Ich fürchtete mich derart, dass ich regungslos in meiner Hängematte verweilte, weil ich mir vorstellte, wie der Hund mich durch die Hängematte beissen wird. Irgendwann wurde er aber von seiner Besitzerin zurückgepfiffen und wir konnten friedlich weiterschlafen. Da Levanto derart schön war, wollten wir einen weiteren Tag verweilen, um im Meer zu baden und Focaccia zu essen. Für diese Nacht wollten wir aber sicher gehen, einen gemütlichen Schlafplatz zu haben. Wir planten, abends auf einen Hügel zu fahren, um mit Meeresblick zu schlafen. Leider enttäuschte uns die App Komoot, weil der Fahrradweg plötzlich in einen Wanderweg verlief. Wir parkierten unsere Fahrräder und schleppten das Nötigste den Berg hoch. Nach einer Stunde und dutzenden Mückenstichen, erreichten wir das FAI, eine vermeintlich öffentliche Klippenfarm mit angelegten Terrassen und daraufstehenden Tischen und Bänken. Zu unserem Unglauben aber, fanden wir diesen Ort umzäunt vor und mit Kameras bewacht. Ein Schild wies daraufhin, dass das FAI aufgrund von Wassermangel vorübergehend geschlossen ist, und der Ort nun zur landwirtschaftlichen Produktion genutzt wird. Die Begebenheiten liessen uns aber keine andere Wahl als über den Zaun zu klettern, weil weit und breit nur dichtes Gestrüpp war, wo man unmöglich eine Hängematte spannen konnte. Ivo ging als Späher voraus und berichtete uns fortlaufend über die Situation. Wir gingen an einer Kamera vorbei. Ivo ging ums Haus und erkannte Licht. Wie von einer Wespe gestochen rannte er uns wieder entgegen und besorgte uns einen Schreck, lachte dann aber und meinte, es handle sich um eine Lichtattrappe. So richteten wir uns ein, assen Brot, Salami und Käse und genossen die Ruhe im Anblick des Meeres. Die anderen beiden wirkten entspannt, ich aber hatte ständig das Gefühl, irgendein Ranger wird kommen und uns eine Busse geben oder die Polizei anrufen. Spätestens beim Aufwachen erkennte ich dann, wie sehr sich dieser Aufstieg und Einbruch gelohnt hatte:



Levanto – La Spezia

Wir standen früh auf, um nicht doch noch erwischt zu werden und fuhren runter nach Levanto, wo wir Espresso tankten und den steilen Anstieg Richtung La Spezia in Angriff nahmen. Da wir uns in Levanto ein Scopa (beliebtes Italienisches Kartenspiel) Kartenset besorgten, spielten wir bei jedem Boxenstopp unterwegs ein paar Runden. Ich verlor fast immer, und verstehe bis heute nicht, wie das sein kann, weil es ein pures Glücksspiel ist. Die Strassen entlang von Cinque Terre waren etwas vom Schönsten, was wir bis dahin befahren durften. Unser Tagesziel war das Refugio Muzzerone in der Nähe der Hafenstadt La Spezia, wo auf einem Hügel Landwirtschaft betrieben, und frisches Essen gekocht wird für die Gäste. Sie bieten auch Unterkünfte an und ich würde jeder Person diesen Ort empfehlen, falls man sich mal in La Spezia aufhalten sollte.



La Spezia - Lucca

Als wir mit dieser Aussicht erwachten, fuhren wir wiederum motiviert los, und zwar nahmen wir uns an diesem Tag die toskanische Stadt Lucca vor, welche im 13. Und 14. Jahrhundert zu den einflussreichsten europäischen Städten gehörte, da sie eine grosse Bedeutung in der Textilindustrie hatte. Der Weg dahin ist nicht sehr erwähnenswert, da wir zuerst durch den hochindustriellen Hafen von La Spezia mussten und danach für dutzende Kilometer auf komplett flachen Strassen und neben überfüllten Stränden fuhren. Lucca aber begeisterte uns dann wiederrum sehr. Mittelalterliche Mauern und enge, mit Charme gefüllte Gassen, in denen aktives Nachtleben herrschte.



Lucca – Florenz

Leider blieb uns aber in Lucca nur Zeit für das Abend- sowie Morgenessen, da wir uns in Florenz ein Hostel buchten und Tim sich entschloss, den Zug zurück in die Schweiz zu nehmen. Die Strecke bis nach Florenz bescherte uns all das, wofür die Toskana berühmt ist: Sanft geschwungene Hügel, weite Felder und Weinberge, wo in der prallen Sonne die Trauben dahinreifen, Zypressenalleen, die wie stille Wächter der Geschichte wirken. In diesen vorbeiziehenden Landschaften realisierte ich, warum solche Fahrradtouren derart heilsam und förderlich sind: Man bekommt ein Gefühl für die Entfernung. Ein Gefühl, welches einem bei einem Flug ganz abhandenkommt. Die Distanz ist da bloss abstrakte Zahl, auf dem Fahrrad oder zu Fuss wird sie spürbar. Ich denke, dieses Gefühl für die Distanz ist gerade heute nicht nur für das Klima von besonderer Wichtigkeit, sondern eben auch für das soziale Zusammensein. Wolfgang M. Schmitt schreibt dazu: «Gesellschaft funktioniert nur durch Distanz, indem wir uns dem anderen nicht zu sehr zumuten. Indem wir eine öffentliche Rolle einnehmen, können wir den anderen ertragen und nur so kann er uns aushalten.» Und dieses Thema wird immer wichtiger. In der Schweiz leben bereits jetzt 85% in städtischen Gebieten, weltweit werden bis 2050 laut Prognosen 70% der Menschen in Städten wohnen. Wir rücken immer näher zusammen, Raum wird immer mehr zu einem Privileg und umso spannender wird die Frage, welchen Umgang wir pflegen sollten und wie wir den öffentlichen Raum gestalten könnten. Der dänische Architekt Jan Gehl fordert eine menschenzentrierte Stadtplanung, welche soziale Interaktion und eine hohe Lebensqualität fördert. Heute aber sind Städte meist komplett auf Autos ausgerichtet, wodurch dieser menschliche Massstab vernachlässigt wird. Hinzu kommt, dass zum Beispiel in der Schweiz im Durchschnitt nur 1.5 bis 1.6 Personen in einem Fahrzeug pro Fahrt sitzen – höchst ineffizient also.

Ich freute mich riesig auf Florenz und hatte damals nach dem Lesen von Dantes «Göttlicher Komödie» grosse Lust, die Stadt einmal hautnah zu erleben. Wir kamen in einem Hostel in der Nähe des Zentrums unter. Um ehrlich zu sein, unternahmen wir nicht viel in Florenz, ausser schlendern, diskutieren, Kaffee trinken und lesen. Uns missfiel es, irgendwelche Touren zu planen oder Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Auch wenn sich die berühmten Statuen auf der Piazza della Signoria letztendlich überaus lohnten.



Nachdem Tim den Zug in Richtung Schweiz nahm, gingen Ivo und ich zum besagten Platz und realisierten, wie wenig wir über die griechische Mythologie wussten und wie spannend sie uns in Angesicht von Skulpturen wie der des Davids, Perseus mit dem Kopf der Medusa, Herkules und Neptun am grossen Springbrunnen, plötzlich erschienen. Danach liefen wir über die Ponte Vecchio, schossen wie alle anderen Touris ein paar Bilder und genehmigten uns danach eine lange Pause. Am nächsten Tag stand die Reise nach Bologna an.


Florenz - Bologna

Diese zwei Städte verbindet ein berühmter Pilgerweg namens «Via degli Dei», welchen ich eines Tages vielleicht noch zu Fuss gehen werde. Diese Wanderroute verbindet Florenz und Bologna auf den Wegen, die in der Antike von den Etruskern für den Handel angelegt und später von den Römern genutzt wurden. Anders als zu Fuss konnten wir Bologna mit dem Fahrrad in wenigen Stunden erreichen und wurden da von meiner Kollegin Chiaraluce, welche ich in Teneriffa in meinem Auslandsemester kennenlernte, empfangen. Ihre Familie besitzt eine Wohnung mit drei Stockwerken in einem mittelalterlichen Turm mitten in Bologna. Ivo und ich durften da für drei Tage wohnen, während sie uns das ganze Haus überliess. Genau wie in Florenz bestand unser Hauptprogramm aus lesen, schreiben, Collagen machen und essen. Endlich hatten wir eine Küche, die wir benutzen konnten, sodass wir einige Male miteinander kochten. An einem einzigen Tag las ich das Buch Festland von Markus Werner, einem ehemaligen Schweizer Gymnasiallehrer, welcher mir bereits unzählige Male von Tim und Ivo empfohlen wurde. Und ja, ich musste feststellen, dieser Mensch konnte schreiben! So heisst es an einer Stelle: «Es gibt Menschen, in deren Gegenwart auch der Schüchterne auftaut, weil sie eine krampflösende Wärme abstrahlen und ihm das Gefühl geben, nicht auf der Hut sein zu müssen. Weich aufgehoben ist man bei solchen Menschen, und weil man spürt, dass man getrost wortkarg und ungeistreich sein darf, findet man zu Worten und Geist.» So in etwa fühlte sich dann auch die Zeit mit Ivo an in diesem Haus. Oftmals sprachen wir lange gar nicht, beide waren wir vertieft in irgendetwas und konnten die Ruhe so vollkommen geniessen. Wenn man dann wieder einmal sprach, so hatte der Dialog auch höheren Gehalt, wie wenn man konstant sprechen würde. Auch wenn unser Nest in diesem Turm derart komfortabel war, konnten wir die junge und lebendige Studentenstadt nicht verpassen. Wir liefen bei Regen unter den Arkaden und suchten unentdeckte Gassen auf. Bologna wurde schnell zu meiner Lieblingsstadt von Italien. Das Terra Cotta artige Rot ziert alle Gebäude der mittelalterlichen Stadt und strahlt eine gewisse Wärme aus. Die geborgenheitsspendenden Arkaden findet man an jeder Strassenseite. Chiaraluce sagte uns, sie besässe keinen Regenschirm, weil man in Bologna immer Schutz findet unter den auf Stützgliedern ruhenden Bögen.




Als Abschluss des gemeinsamen Urlaubs ass ich am Vorabend der Abreise mit Ivo die letzte Pizza. Das Thema unseres Gesprächs belief sich auf das Manifestieren. Ivo hätte eine Sternstunde Philosophie dazu gesehen und wie ich es von ihm bereits kannte, steht er dem ganzen kritisch gegenüber – zu recht. «Es will nicht in meinen Kopf, wie sich jede beliebige Person ein Vorzeigeauto manifestiert und dieses dann wahrhaftig erhalten soll, ohne dass dieser Prozess nicht von ressourcenbedingten Grenzen unterbunden wird. Besonders in dieser materialistisch ausgerichteten Welt ist es längst Utopie, dass jeder bekommt, was er sich wünscht..» Ich antwortete: «Manifestieren hat für mich in erster Linie damit zu tun, was die eine sanfte Stimme in unserem Innern, welche von tausend anderen überlagert wird, uns sagen möchte. Sie ist leise und vertraut, ähnelt unserer Intuition oder dem Bauchgefühl und sie steht in direktem Widerspruch zur Begierde des Egos.» Nach unserem Gespräch trafen wir Chiara und ihre Freundin Cassandra, welche Psychologie studiert und eine begeisterte Cineastin ist. Deshalb sprachen wir viel über Filme und tauschten gegenseitige Vorschläge aus. Als wir später im Haus ankamen, meinte Ivo zu mir, manchmal fände er es etwas befremdlich, so viel über Kunst zu reden oder wenn jemand seine ganze Freizeit damit verbringt, ins Kino zu gehen, um danach darüber zu reden wie gut die Kameraführung, das Schauspiel oder die Story in Film x war. Es sei mit grosser Eitelkeit verbunden, sich auf Kunstkenntnissen etwas einzubilden, dabei aber bloss Konsument:in zu bleiben und nichts wirklich Konstruktives beizutragen in einer Welt, in der Leid und Ungerechtigkeit eigentlich nicht zu übersehen sind. «Ich denke mir dann, geht doch zur Abwechslung in ein Flüchtlingscamp und helft da den Menschen. Mir aber scheint es fast so, als würde jemand, der viel über Kulturelles zu erzählen hat, mehr Achtung bekommen als eine Person, welche reale, humanitäre Hilfe leistet.» Dieses Gespräch war bedeutend und augenöffnend für mich. Ich war Ivo für diese ehrlichen Worte unglaublich dankbar. Ich konnte nur noch anfügen, dass ich das Kino beispielsweise als Bildungsort verstehe, welcher durch seine Geschichten und inhärenten Ideologien anregt, ins Handeln zu kommen.


Bologna – Padua

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Ivo, kaufte mir Postkarten und beschrieb diese in einem Café von Bologna. Danach brachte ich die Karten auf die Post und fuhr los Richtung Padua. Nach genau einmal dreissig Minuten stach mich eine Biene zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie wurde zwischen meiner Hand und dem Lenker eingeklemmt und jagte mir darauf hin ihren Stachel in die Haut, den ich rauszog und sofort merkte, wie schwer das Fahren so heute wohl noch werden wird. Ich fuhr weiter und versuchte mich durch Singen abzulenken. Der Schmerz machte mich aber ehrlich gesagt ganz schön wütend und ich wollte es nicht wahrhaben dies erlebt zu haben. Dann stellte ich mir vor, dass die Biene auch einen Meter höher auf mich treffen konnte, direkt in meinen Mund und im Handumdrehen wurde ich gar froh, über den Stich an der Hand. Nach etwa zwei Stunden war meine Hand auf die Grösse eines mit wassergefüllten Latex-Handschuh angeschwollen, sodass ich den Lenker nicht mehr greifen konnte. Ich biss auf die Zähne und fuhr noch einige Kilometer bis zum nächsten Dorf. Da holte ich mir eine Arancini, eine Cola und die entsprechenden Medikamente, welche die Schwellung ein wenig mindern sollten. Es wurde aber nicht wirklich besser. Weitere zwei Stunden später hielt ich bereits etwas resigniert an einem Kinderspielplatz, um Wasser aufzufüllen. Ein anderer Velo-Backpacker putzte sich seine Zähne auf einer Bank. Er näherte sich mir und begann auf Spanisch zu reden. Wir unterhielten uns sehr lange. Irgendwann fragte ich ihn, warum er wusste, dass ich Spanisch spreche. Er meinte: «Wusste ich nicht, ich rede hier mit allen Spanisch, die Italiener verstehen mich und ich sie.» Joserra ist 42 Jahre alt, lebt in der wunderschönen Gegen von Pais Basco und hatte gerade eine Trennung hinter sich, welche er nun mit einer langen Veloreise verarbeiten möchte. Er fuhr von Nordspanien bis nach Italien und hat als nächstes Slovenien, Kroatien, Albanien, Türkei und vielleicht sogar noch Iran vor sich. Bis heute pflege ich noch Kontakt zu ihm. Sein Vorhaben und seine Einstellung haben mir sehr imponiert. Ich fragte ihn, ob er auch irgendeinen Blog schreibt oder seine Reise auf Social Media dokumentiert. Er verneinte, weil er diese Reise nur für sich machen möchte. Schliesslich überreichte er mir noch einige Schmerzmittel, die mir verhalfen, gegen Abend in Padua anzukommen, wo ich beschloss, einen ganzen Tag im Hotel mit Pool zu verbringen, bis sich meine Hand abschwillt.

 

Padua – Trento

Meine Hand war wieder auf Normalgrösse geschrumpft und ich nahm mir für den entsprechenden Tag den Lago di Caldonazzo vor, was 1500 Meter Aufstieg und 120 Kilometer Wegstrecke bedeutete. Nach der hügeligen Landschaft von Cinque Terre und der Toskana, bekam ich es nun zu spüren, was wirkliche Berge sind. Hier oben, wo die Luft dünner und die Landschaft karger wird, verliert sich die Hektik des Alltags. Ich war umgeben von der unbändigen Kraft der Natur – der stummen, aber mächtigen Präsenz der Berge, die schon seit Jahrtausenden das Land beherrschen. Die Alpen sind seit jeher eine natürliche Barriere, aber auch eine Verbindungslinie zwischen Völkern und Kulturen. In «Sehnsucht Landschaft» von Raimund Rodewald ist zu lesen, dass die erste grosse Alpenbeschreibung der Neuzeit im Jahr 1574 vom Zürcher Humanisten Josias Simler verfasst wurde. Zuvor herrschte der Glaube unter den Menschen, der Alpenraum sei von Geistern und Dämonen bewohnt. Die Berge wurden primär als Bedrohung gesehen. Erst durch die schriftliche Beschreibung, wurden die Berge allmählich als nützlich und schön betrachtet. Im 18. Jahrhundert leisteten Dichter und Romantiker dann ihren Beitrag dazu, dass gar eine riesige Aufbruchsstimmung entfesselt wurde, die vielen unberührten Berge zu erklimmen. Zu den damaligen Autoren gehörte auch der berühmte Aufklärer Jean-Jacques Rousseau. In seinem Werk "Julie oder Die neue Heloise" (1761) beschrieb er die Alpen als majestätisch und inspirierend. Spannend aber ist, dass schon die Römer diese Pässe nutzten, um ihre Armeen und Handelswaren durch das damals noch wilde Gebirge zu führen. Trotz grosser Furcht der mythischen Gefahren, überwog letztendlich der wirtschaftliche Pragmatismus. Waren wie Salz, Wein, Öl und Edelmetalle mussten ins heutige Deutschland oder Frankreich gelangen. Später, im Ersten Weltkrieg, wurden genau hier die Fronten zwischen Italien und Österreich-Ungarn gezogen. Die Strassen, auf denen ich fuhr, waren einst Zeugen erbitterter Kämpfe – welch Kontrast zu der nun friedlichen Stille, die nur ab und zu von aufheulenden Motoren gebrochen wird.

 

Trento – Merano

Ich übernachtete am Lago di Caldonazzo auf einem Camping, der mehrheitlich von Familien besucht wurde. Am Morgen war mein Hab und Gut schnell zusammengepackt und ich fuhr noch einige Kilometer entlang des Sees. Am Ende des Sees kam ich dann zum ersten Mal in Kontakt mit den Obstplantagen des Südtirols. Es handelt sich um das grösste zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas. Jährlich werden hier ungefähr 950'000 Tonnen Äpfel produziert. Dies macht fast 10% der europäischen Apfelproduktion aus! Es liegt auf der Hand, dass für eine solch gewaltige Produktion, intensiv bewirtschaftet wird. Gegen Schädlinge wie den Apfelwickler und gegen Pilzkrankheiten werden hier grosse Mengen an synthetischen Pestiziden und Fungiziden mit Gebläsen verteilt, was einen grossen Abdrift zur Folge hat – sogar bis in Regionen, welche eigentlich naturgeschützt wären.

Das Tal des Flusses Etsch eignet sich perfekt, um Fahrrad zu fahren und beschert einem die schönsten Ausblicke auf Wasser, Dolomitgestein und die vielen Apfelplantagen. Auf Bozen freute ich mich dann besonders und setzte mich bei meiner Ankunft in ein Café mit Blick auf die Statue des mittelalterlichen Dichters Walther von der Vogelweide. Das ganze städtische Treiben wirkte hier sehr gesittet und bürgerlich. Die Mischung von österreichischer-italienischer Kultur war mir ganz neu und ich fand grosses Interesse daran, mich als stiller Beobachter hinzugeben.



Mein Endziel an diesem Tag lautete aber nicht Bolzano, sondern Trentino, wo ich eine Jugendherberge aufzusuchen gedachte. Bei der Weiterfahrt fielen mir die unzähligen Goldruten auf, welche ich vor ein paar Monaten noch fleissig ausriss in meinem Zivildiensteinsatz. Hier behandelte man dieses Thema ähnlich ambitioniert wie bei uns die SBB: gar nicht. Daneben wuchsen verschiedene Gehölze wie die Robinien und entlang des Flusses sah ich sogar wilde Topinambur Pflanzen, welche in gelber Blüte standen. Gegen Abend traf ich in der Jugendherberge in Merano ein und war aufgrund der nächtlichen Kälte froh, nicht in der Hängematte übernachten zu müssen.

 

Merano - Scuol

Von Merano aus in Richtung Reschenpass zeichnete sich dasselbe Landschaftsbild wie am Vortag: Das Tal bedeckt von Obstplantagen, eingehüllt von den Bergkämmen, welche bald schon den ersten Schnee empfangen werden. Rückblickend lässt sich über die Reise sagen, dass wir stets von guter Witterung profitieren konnten. An diesem Tag regnete es aber wie in Strömen und war froh um die in Florenz gekaufte Regenjacke des Fussballclubs von Livorno. Auf Empfehlung von Ivo hörte ich mir beim anstrengenden Aufstieg das Hörbuch «Hier bleibe ich» von Marco Balzano an, welches die tragischen Ereignisse der Gegend um Graun zur Zeit des zweiten Weltkrieges beschreibt. Das berühmte Wahrzeichen des untergegangenen Dorfs ist der Kirchturm, der heute noch aus dem Reschensee herausragt.

Die Geschichte wird dabei aus der Perspektive einer Lehrerin erzählt, die gegen die Unterdrückung und Zerstörung ihrer Heimat kämpft. Mussolini plante damals mit seiner faschistischen Partei einen Staudammbau beim Reschensee. Viele italienische Arbeiter wurden vom Süden in den Norden geschickt, um bei diesem Projekt mitzuwirken. Die Bewohner standen dabei vor der schwierigen Entscheidung, entweder zu fliehen oder in ihrer Heimat zu bleiben, um diese bis zum Ende zu verteidigen.

Dabei wird beleuchtet, wie gross der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität ist und dass Sprache eben nicht nur Kommunikationsmittel ist, sondern auch eine enorme kulturelle Verwurzelung darstellt.

Über Sprache nachzudenken ist für mich ein wichtiger Bestandteil des Reisens. Wenn ich von italienischen Menschen Wörter höre, welche ich noch nicht kannte, deren Bedeutung nachfrage und dann realisiere, dass es in meiner Muttersprache keinen so treffenden Begriff gibt für einen Akt, ein Erlebnis oder dergleichen, dann ist das für mich ein Heureka-Moment. Dann habe ich etwas gefunden, einen Zusammenhang hergestellt. Eines meiner Lieblingswörter auf Italienisch ist «scarpetta». Fare la scarpetta ist die Handlung des Auftunkens mit einem Stück Brot der übriggebliebenen Sosse im Teller. Es ist etwas, was ich seit Kindesalter tue und nun einen passenden Begriff für diese Handlung zu haben, ist wunderbar. Denn «scarpetta» bedeutet für mich zum einen, das Essen so wertzuschätzen, indem man keinen einzigen Tropfen verschwendet und gleichzeitig ist es ein Sinnbild für das volle Leben, etwas ganz auszukosten ähnlich, wie wenn ein flüchtiger Moment einem so viel Bedeutung schenkt, sodass man ihn ganz in sich hineinatmen möchte. Mit genau dieser Intensität und Leidenschaft zu leben, das haben die Italiener*innen verstanden.

Ein weiteres Beispiel ist der Begriff «un scorcio».


Damals in Teneriffa lief ich eines Nachmittags mit einem Freund eine Gasse Richtung Meer hinunter. Wir waren beide gefesselt vom Anblick, das Meer zog uns magisch zu sich. Ich meinte zu Giacomo, dass ich diese Szenerien liebe, wenn man das Meer von weitem, durch irgendetwas eingerahmt erkennt. Dann meinte er, sie würden das «scorcio» nennen, sprich eine Sicht aufs Meer, welche aber durch Häuserstrukturen in einer Gasse begrenzt wird. Jedes grosse Kunstwerk benötigt einen entsprechenden Rahmen, um nicht frei in der Gegend zu schweben, der Rahmen darf aber bloss nicht zu üppig sein, um der eigentlichen Schöpfung nicht die Show zu stehlen. Tatsächlich spüre ich beim Anblick des Meeres manchmal ein leicht unbehagliches Gefühl. Die vermeintliche Unendlichkeit scheint mir nicht greifbar.

In einem Land zu leben, das überall von Bergen und Hügeln umrahmt ist, hat vielleicht eine ähnliche Wirkung, wie beim Phänomen von «scorcio». Wir sind es uns gewöhnt nicht mit einer endlosen Weite konfrontiert zu sein, wir haben stets eine vertikale Begrenzung um uns. Interessant, wenn ich nun zurückdenke, was ich über die Arkaden in Bologna geschrieben habe, wie dieses eingehüllt sein, etwas geborgenheitsspendendes schafft.

Als ich den Reschensee passierte, lautete mein nächster Meilenstein die Schweizer Grenze. Bis dahin genoss ich wunderbare Abfahrten und war geschwind wieder auf Schweizer Boden, wo ich gegen Abend in der Jugendherberge von Scuol ankam, meine Beine mit einer muskelbehandelnden Creme einstrich und Buch führte über den vergangenen Tag. Danach hatte ich den Einfall, dass ich die Reise mit einem Wellnesstag krönen könnte.


Scuol-Bremgarten

Das Bogn Engiadina eignete sich bestens für die ersehnte Entspannung und seit langem durfte ich wieder die reinigenden Kräfte einer Sauna erleben. Eigentlich hatte ich nach dem dreistündigen Aufenthalt vor, noch bis zum Walensee zu fahren, um da zu übernachten. Ich fuhr gegen Mittag los und musste nach einer Stunde feststellen, wie mein Körper vehement dagegenhielt. Falls dieser sprechen könnte, hätte sich dies vielleicht etwa so angehört:

«Warte mal, was soll das?! Du hast mich gerade in dampfende Bäder, Saunen und bequeme Liegestühle gebracht und jetzt willst du mich wieder in die Pedalen treten lassen? 100 Kilometer? Ich bin kein Sportgerät, sondern fühle mich gerade eher wie eine wohlgenährte Seekuh, hier geht kein Meter mehr.» Die Botschaft war ziemlich klar. So schlimm fand ich die Idee, nach Scuol in den Zug zu steigen, um zurück nach Bremgarten zu fahren, dann doch auch nicht und somit endete meine Veloreise, welche meine Liebe zur Natur und zu den Menschen aufs Neue verstärkte.

 

 

 

 

 

 
 
 

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